Liebe Gemeinde,

in Jerusalem gab es einen Priester, dem hatte es die Sprache verschlagen. So sehr er sich auch mühte, er bekam kein Wort über die Lippen. Neun Monate dauerte das schon. Eine Tragödie für einen Priester, der auf seine Sprache angewiesen ist.

Passiert war es ausgerechnet, als er an der Reihe war, das Rauchopfer im Tempel darzubringen. Als er aus dem Tempel heraustrat und zum Volk reden wollte, versagte ihm die Stimme. Und seitdem hatte er seinen Beruf nicht mehr ausüben können: oder wie man auf Beamtendeutsch sagen würde: bedingte Verhinderung des Arbeitnehmers an der Erbringung seiner Arbeitsleistung aufgrund körperlicher Beeinträchtigung.

Für die Menschen in der Umgebung des Priesters war dies ein Rätsel. Anfangs war auch ein wenig Schadenfreude dabei. Denn Priester reden gern und häufig – auch über Dinge, die einen unangenehm berühren. Doch je länger dieses Schweigen andauerte, umso unheimlicher wurde es den Freunden.

Denn Menschen, die einen anschweigen, besitzen manchmal mehr Macht als Menschen, die andauernd reden.

Warum schwieg er? Wollte er nichts mehr mit ihnen zu tun haben? Hatte ihn jemand gekränkt? War er verbittert? Hatte er es satt, salbungsvolle Worte zum Besten zu geben? Hatte er gar ein Gelübde abgelegt? – Das Schweigen des Priesters blieb ein Rätsel.

II.

Der Priester galt als frommer Mann, er war gerne Priester geworden und glaubte fest an den Gott Israels. Er nahm die Gebote ernst und vertraute auf die prophetischen Worte vom kommenden Erlöser. Schon seit vielen Jahrzehnten war er Priester. Anfangs mit großem Elan, später mit viel Routine. Aber immer noch sang er mit großer Leidenschaft die Psalmen im Tempel. Immer wieder erinnerte er an die Verheißung von der kommenden Erlösung Israels.

Das waren Worte, die man im Volk gerne hörte, denn schon seit Jahrzehnten bestimmten fremde Machthaber das Geschehen im eigenen Land: Die Römer hatten das Land besetzt. In Jerusalem herrschten sie durch die Familie Herodes des Ersten. Es gab viele Aufstände und große Konflikte zwischen Römern und Judäern. Starke Endzeit-Hoffnungen prägten den judäischen Widerstand.

Als z.B. der verhasste König Herodes im Jahr 4 vor Christi Geburt starb, kam es beim Passahfest in Jerusalem zu Unruhen. Sein Sohn Archelaos ließ eine ganze Streitmacht aufmarschieren und erstickte den Aufruhr im Blut von 3.000 Juden und Jüdinnen. Wenig später zerstörten römische Truppen auf dem Weg nach Jerusalem mehrere Dörfer. Etwa 2.000 angebliche Rädelsführer wurden in einer Massenkreuzigung hingerichtet. Auf diese Weise sollte der judäische Widerstand gegen die römische Besetzung gebrochen werden.

IV.

Angesichts dieser Ereignisse wurde es immer schwerer, an die Verheißungen des Gottes Israels zu glauben. Die Tatsachen sprachen eine andere Sprache.

Auch unserem Priester gingen die Loblieder auf den Gott Israels immer schwerer von den Lippen. Wo blieb der Gott, der mit Abraham einen Bund geschlossen hatte? War es eine vergebliche Mühe, auf ihn zu hoffen?

War es dies, was den Priester verstummen ließ? Die ausweglose Situation im Land? Die bittere Realität der Unterdrückung? Die Erfahrung, dass man ohnehin nichts ändern konnte? Vielleicht.

Bei unserem Priester kam noch ein Zweites hinzu. Er war schon  betagt, und Gott hatte ihm keine Nachkommen geschenkt. Die Ehe mit seiner Frau Elisabeth blieb kinderlos. Sein sehnlichster Wunsch, ein Kind zu haben, war im Tempel verhallt. Unzählige Male hatte er zu Gott gebetet. Vergeblich. Er und Elisabeth würden im Alter allein bleiben. Niemand, der sie versorgte – und das in den ohnehin schweren Zeiten der römischen Besatzung.

Als Priester am Tempel hatte Zacharias – so sein Name – gehofft, dass es Advent würde. Dass Gott kommen und sein Volk besuchen würde, um es zu befreien. Dass endlich Schritte auf dem Weg des Friedens gemacht würden.
Aber dann erfüllten sich nicht einmal die kleinen Hoffnungen seines Lebens. Zurück blieb ein frommer Mann, dem es immer schwerer fiel, an der Hoffnung festzuhalten. Er flüchtete in die Routine seines Berufes. Tatsächlich aber war Zacharias es leid, jedes Jahr vergeblich dieselben Adventslieder zu singen. Tochter Zion – ein anderer Name für die Tempelstadt Jerusalem – war gerade überhaupt nicht nach Freude zumute.


  1. Dies änderte sich an dem Tag, als der Priester verstummte. Zacharias hielt sich an jenem Tag im Tempel auf, um das Rauchopfer darzubringen, da erschien ihm ein Engel Gottes. Der Engel sprach:

»13 Fürchte dich nicht, Zacharias! Denn dein Gebet ist erhört worden, und Elisabeth, deine Frau, wird dir einen Sohn gebären, und du sollst ihm den Namen ›Johannes‹ geben. 14 Und Freude und Jubel wird dir zuteil werden, und viele werden sich freuen über seine Geburt. 15 Denn er wird groß sein vor dem Herrn (...) und schon im Mutterleib wird er erfüllt werden von heiligem Geist, 16 und viele von den Söhnen und Töchtern Israels wird er zurückführen zum Herrn, ihrem Gott« (Lk 1,13-16).

 

Lange hatte Zacharias auf ein Zeichen Gottes gewartet. Nur, als er und seine Frau selbst in den Plan Gottes einbezogen wurden, da kamen ihm Zweifel. Dass die beiden in ihrem hohen Alter noch einen Sohn bekommen sollten, den sie sich in jungen Jahren so sehnlichst herbei gewünscht hatten, das allein verschlug ihm schon die Sprache. Zudem sollte dieser Sohn noch einen Namen bekommen, der in der Familie nicht üblich war (Lk 1,61): Johannes – d. h. Gott ist gnädig.

Es war zu schön, was der Engel da sagte. Jemand musste sich einen Scherz mit ihm erlaubt haben. Darum fragte er: »Woran soll ich erkennen, dass dein Wort wahr ist? Wie soll ich wissen, ob ich mir nicht alles einbilde?« Da sagte der Engel:

»19 (...) Ich bin Gabriel, der vor Gott steht; und ich wurde gesandt, um mit dir zu reden und dir dies als gute Botschaft zu überbringen. 20 Und jetzt sollst du stumm sein und nicht reden können bis zu dem Tag, da dies geschieht, weil du meinen Worten nicht geglaubt hast, die in Erfüllung gehen werden zu ihrer Zeit

VI.

Neun Monate lag das zurück. Zacharias hatte seitdem den Mund nicht mehr aufgemacht, um zu reden. Die Ankunft des Gottesboten, der Advent, hatte ihn verstummen lassen. Erst als sein Sohn geboren wurde und beschnitten werden sollte, erhielt er sein Sprechvermögen zurück.

Zacharias hob an zu einem gewaltigen Lobgesang. Wir hören seine Worte, wie sie im 1. Kapitel des Lukas-Evangeliums aufgeschrieben sind. Ich lese in der Übersetzung der BasisBibel:

 

»59 Als das Kind acht Tage alt war, kamen sie zur Beschneidung.Sie wollten ihm den Namen seines Vaters Zacharias geben. 60 Aber seine Mutter widersprach: »Nein, er soll Johannes heißen!« 61 Sie hielten ihr entgegen: »Es gibt niemanden in deiner Verwandtschaft, der so heißt.« 62 Da fragten sie seinen Vater durch Zeichen: »Wie soll er heißen?« 63 Er verlangte ein Wachstäfelchen und schrieb: »Er heißt Johannes.« Darüber wunderten sich alle. 64 Im selben Augenblick konnte Zacharias wieder sprechen. Da begann er, Gott zu loben.

65 Große Furcht überkam alle, die aus der Nachbarschaft gekommen waren. Im ganzen Bergland von Judäa sprach sich herum, was geschehen war. 66 Alle, die davon hörten, fragten sich: »Was wird aus diesem Kind einmal werden?« (…) 67 Da wurde Zacharias, der Vater von Johannes, vom Heiligen Geist erfüllt. Er begann wie ein Prophet zu reden:

68 »Gelobt sei der Herr, der Gott Israels!

Denn er ist seinem Volk zu Hilfe gekommen und hat es erlöst.

69 Er hat uns einen starken Retter gesandt,

einen Nachkommen seines Dieners David.

70 So hat Gott es von jeher angekündigt

durch den Mund seiner heiligen Propheten –

71 einen Retter, der uns befreit von unseren Feinden

und aus der Gewalt aller, die uns hassen.

72 Damit hat Gott auch unseren Vorfahren

seine Barmherzigkeit erwiesen.

Er hat an den heiligen Bund gedacht,

den er mit ihnen geschlossen hat. (…)

76 Und du, Kind,

wirst ein Prophet des Höchsten genannt werden.

Du wirst dem Herrn vorangehen

und den Weg für ihn bereit machen.

77 Du schenkst seinem Volk die Erkenntnis,

dass der Herr es retten will und ihm die Schuld vergibt.

78 Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen.

Darum kommt uns das Licht aus der Höhe zur Hilfe.

79 Es leuchtet denen,

die im Dunkel und im Schatten des Todes leben.

Es lenkt unsere Füße auf den Weg des Friedens.«

 VII.

Liebe Gemeinde,

das sind beeindruckende Worte. Nach 9 Monaten des Schweigens bricht es aus Zacharias heraus. Die gesamte Heilsgeschichte wird heraufbeschworen, um das Wunder zu verstehen:

Gott hat seines Bundes gedacht, er wird David einen würdigen Nachkommen erstehen lassen und Israel den ersehnten Frieden bringen. Das neugeborene Kind wird dieser Entwicklung als Prophet vorangehen. Er wird dem Volk zur Rettung verhelfen, ihnen die Sünden vergeben und das Licht aus der Höhe herbeiführen.

Beeindruckend sind diese Worte, aber auch beängstigend. »Was wird aus diesem Kind einmal werden?« frage die Leute. Das Kind ist kaum geboren, da wird es schon mit Erwartungen überhäuft. Das Leben dieses heranwachsenden Kindes ist vorgezeichnet. Die Messlatte liegt hoch. Nach der langen Zeit des Wartens soll er nun die Dinge richten. Alles, was bisher nicht klappte, soll nun durch ihn vorangebracht werden.

Wäre es nicht besser gewesen, Zacharias hätte geschwiegen? Wie verantwortungsvoll war es, das Leben seines Sohnes mit einer solchen Bürde zu belasten? War es fair, dem eigenen Sohn die enttäuschten Hoffnungen zu übertragen? Musste der Sohn nicht scheitern in einer Zeit, in der andere schon alles versucht hatten? War es nicht geradezu gefährlich, den eigenen Sohn zum Vorkämpfer gegen die verhassten Feinde auszurufen? War es nicht vorauszusehen, dass auch der eigene Sohn zerschellen würde am Bündnis der Familie des Herodes mit den übermächtigen Römern?

VIII.

Neun Monate hatte Zacharias Zeit, sich diese Fragen zu überlegen. Neun Monate kämpfte er mit sich selbst, ob er der Verheißung mehr vertrauen sollte als der ernüchternden Wirklichkeit. Oft genug hatte er schon Advent gefeiert, die erneute Zuwendung Gottes nahe herbeigesehnt, um dann wieder enttäuscht in seinen Alltag zurückzufallen. All das, was er in den Jahren seiner priesterlichen Tätigkeit gesagt hatte, schien ihm fraglich. Vielfach waren es nur noch Worthülsen, die er zum Besten gab: Barmherzigkeit, Gnade, Friede, Gerechtigkeit, Erlösung. 500 Jahre hatte sich Gott nun schon nicht mehr durch Propheten offenbart. Maleachi war der letzte gewesen. Und jetzt sollte diese Durststrecke zuende sein?

Und das Schlimmste war: Wenn Johannes – den man später den ›Täufer‹ nannte – wirklich ein Prophet Gottes werden würde, dann würden die Eltern nicht viel von ihrem Sohn haben. Zachjarias wusste, welche Entbehrungen das Prophetendasein mit sich brachte. Ein Prophet hatte in der Regel mehr Feinde als Freunde. Weil er der göttlichen Herrschaft mehr vertraute als der Herrschaft durch Menschen, musste er jederzeit mit Maßnahmen durch das Könighaus und die römischen Besatzer rechnen.

Und dennoch. Zacharias war fest entschlossen, der Verheißung durch den Engel zu vertrauen. Auf enttäuschte Hoffnungen zurückzublicken, das war leichter, als neue Hoffnungsperspektiven zu prüfen und neue Wege zu gehen.

IX.

»Gelobt sei der Herr, der Gott Israels! Denn er ist seinem Volk zu Hilfe gekommen und hat es erlöst.« (V. 68)

Das waren die ersten Worte des Priesters Zacharias nach neunmonatigem Schweigen. Diese Worte sind uns für den heutigen 3. Advent mitgegeben.

Wir verbinden heute mit Advent zunächst etwas anderes: Alles um uns herum ist ›adventlich‹ gestimmt. Lichter brennen in den Fenstern und an den Bäumen. Die Wohnzimmer sind mit Tannengrün und Kerzen geschmückt. Für Kinder gibt’s Adventskalender, um das Warten bis Weihnachten zu versüßen.

Wenn wir heute Advent feiern, so warten wir in der Regel nicht auf das nahe Kommen Gottes.

Gleichwohl sind wir in dieser Zeit besonders empfänglich für bestimmte Hoffnungen. Wir gönnen uns Gefühle und Gedanken, die sonst im Jahr untergehen. Wir sind empfindsamer für das, was das Leben ausmacht und erfüllt. Die Adventszeit lässt uns zurückblicken in unsere eigene Kindheit, als wir noch voller Erwartungen waren, unsere Hoffnung noch nicht durch die Realität unseres Leben geschliffen war.

Advent, das sind vier Wochen des Wartens. Zeit der Erwartungen an uns selbst, Zeit der Erwartungen, die andere an uns haben.

Auch wenn die vorweihnachtliche Hektik uns erfasst, Enttäuschungen auf uns warten, so bleibt diese Zeit doch eine besondere Zeit – egal, ob wir sie als harmonisch oder als bedrückend erleben. Die Advents- und Weihnachtszeit öffnet in uns ein Tor für Hoffnungen, die jenseits unserer Erfahrung liegen.

Advent feiern heißt, sich nicht mit dem Gegenwärtigen abzufinden, sondern damit zu rechnen, dass Gott unserem Leben, unserer Welt ein Ziel geben gegeben hat, für das es sich zu leben lohnt.
Leicht ist es, resigniert auf enttäuschte Hoffnungen zurückzublicken. Ungleich schwerer ist es, neue Perspektiven zu prüfen und neue Wege zu gehen.

Zacharias hat dem neuen Weg etwas zugetraut. Neun Monate Abstand von den eingefahrenen Wegen haben sein Denken befreit. Er konnte nun ganz anders auf das voraus-hoffen, was geschehen würde.

X.

Liebe Gemeinde,

im Unterschied zu Zacharias blicken wir heute auf diese Zeit zurück. Advent liegt schon hinter uns.

Wir wissen heute, dass weder Johannes noch Jesus alle Hoffnungen, die auf ihnen ruhten, erfüllt haben; der irdische Weg beider endete tragisch. Wir haben ihr Scheitern vor Augen:

- den abgeschlagenen Kopf Johannes des Täufers, dargebracht der

  Stieftochter von Herodes Antipas,

- und den gefolterten Jesus von Nazareth, gekreuzigt auf Befehl

  von Pontius Pilatus.

Wir wissen aber auch, dass dieses Scheitern nicht das letzte Wort Gottes bedeutete. Die Mission Johannes des Täufers bereitete den Boden für die Verkündigung Jesu. Und dessen Botschaft lebte fort in den Menschen, die an ihn glaubten. Sie vertrauten darauf, dass das, was Gott in ihm angefangen hatte, eine Fortsetzung finden würde.

Liebe Gemeinde,

nicht neun Monate, sondern noch genau eine Woche liegt vor uns. 7 Tage, um zu schweigen von dem, was uns routinemäßig über die Lippen geht. 7 Tage, um der Hoffnung in uns Raum zu geben, dass da noch mehr ist als Lebkuchen, Glühwein und China-Plastik unter Weihnachtsbäumen. Etwas, das wir gar nicht mehr zu hoffen wagten:

»78 Unser Gott hat ein Herz voll Erbarmen.

Darum kommt uns das Licht aus der Höhe zur Hilfe.

79 Es leuchtet denen,

die im Dunkel und im Schatten des Todes leben.

Es lenkt unsere Füße auf den Weg des Friedens.«

Die Richtung kennen unsere Füße also schon. Wir müssen uns nur noch aufmachen zum Stall nach Bethlehem.

»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus.« (Phil 4,7). Amen.