Predigt von Pastor Christoph Rehbein
am 27. Juni 2021
über Genesis 50, Verse 15-21

Liebe Gemeinde, wir befinden uns am Ende des Buches Genesis. An dessen Anfang steht die Schöpfung des Lebens. An seinem Ende ein Doppelpunkt: Das Leben geht weiter! Trotz alledem. Auch wenn das Paradies Vergangenheit ist. Wir werden mit hineingenommen in die Lebensgeschichte von Menschen, die so sind wie du und ich. Mit guten Ansätzen im Charakter, aber auch voller grober Fehler.

Die Brüder Josephs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Joseph könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben.

Mit dieser Vermutung haben Sie sicher recht, die zehn älteren Brüder, hier ohne den Jüngsten namens Benjamin und ohne die Schwester Dina. Joseph könnte uns gram sein.

All die Zeit, die wir jetzt schon in Ägypten weilen, sind wir Geflüchtete. Aus der Heimat Vertriebene. Einst war es das Land, wo Milch und Honig flossen, jetzt herrscht dort bittere Hungersnot. Da hat Joseph sie ernährt im reicheren Ägypten, wo er Minister geworden war. Karriere am Pharaonenhof hatte er gemacht. Er, den seine Brüder früher den Träumer nannten. Und der als Lieblingskind von Vater Jakob, als Zweitjüngster, so dumm war, seine Träume den Älteren zu erzählen. Zum Beispiel den, wo alle elf Brüder auf dem Acker erntend Getreidegarben gebunden hatten. Große Bündel, von denen nur eins stehen bleibt. Das von Joseph. Die anderen aber fallen um. Sie gehen sozusagen auf die Knie vor dem, der damals schon so eine Art Star war. Joseph könnte uns gram sein. Das ist wohl wahr. Vielleicht war er Ihnen gegenüber später nur deshalb großzügig, weil ja der Vater dabei war, der die große Familie zusammenhielt. Der war zwar in seiner Kindheit beileibe auch kein Engel gewesen. Hat sich am Ende aber doch versöhnt mit dem älteren Zwillingsbruder Esau. Und nun, im hohen Alter, gibt er jedem seiner Söhne einen besonderen Segen: Aus den zwölf Stämmen Israels soll noch etwas Großes werden! Inzwischen aber war Jakob gestorben und begraben. Zu seinen Müttern und Vätern versammelt. Begraben bei Hebron, in der Heimaterde. Was nun? Sein Schutz fällt weg, jetzt sind wir selber dran. Joseph könnte uns gram sein… Allerdings!

Es folgen zwei Verse mit drei Doppelpunkten.

Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollte ihr zu Joseph sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters.

Klingt umständlich, oder? Drei Doppelpunkte sind drei Mauern gegen die Direktheit. Passiv lassen sie Joseph sagen, wo sie der Schuh drückt. Offenbar durch Eilboten. Sie berufen sich auf Papa Jakob. Und wir suchen vergebens die Bibelstelle, die solch Zitat schon einmal gebracht hätte. Und dann nennen Sie sich mit doppeltem Genitiv Diener des Gottes deines Vaters. Aus all dem Geschwurbel ragt ein Begriff heraus, die Missetat. Die haben sie niemals verdrängen können. Damals, als sie Jugendliche waren, wollten sie ihn umbringen. Allein Ruben, dem Ältesten, war es zu verdanken, dass Joseph „nur“ in einem ausgetrockneten Brunnen landete. Von wo aus sie ihn verkauft hatten an eine Handelskarawane. Die nach Ägypten unterwegs war. Den Eltern gegenüber hatten sie Joseph mit einem blutigen Beweisstück für tot erklärt. Was für ein Segen, dass er am Leben bleibt und sie später, zunächst noch unerkannt, mit Nahrung versorgt. Eine längere Geschichte, Thomas Mann hat viele tausend Seiten daraus gemacht. Doch nun weiter im Predigttext:

Aber Joseph weinte, als man ihm solches sagte.

Schwer zu sagen, was das für Tränen sind, oder? Mag sein, dass auch den Joseph ohne Jakobs Schutz die tiefe Verletzung aus der Kindheit einholt. Kann auch sein, dass sich in ihm schon etwas löst. Weil er berührt ist, dass endlich dieses eine Wort fällt: Missetat. Inmitten aller Umständlichkeit der Brüder steht es da, ungeschminkt und ehrlich. Es ist Fakt. Sie waren Verbrecher in ihrer Jugend. Und jetzt nähern sie sich dem, der doch ihr Bruder geblieben ist: Und seine Brüder gingen selbst hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte!

So als ob sie nun als erwachsen Gewordene einsehen, dass Josephs Traum von damals wahr geworden ist. Doch nun reißt der Jüngere die Älteren aus der Kindheit heraus. Das war ein Traum, Brüder, jetzt sind wir erwachsen geworden! „In echt“ ist der Kniefall unnötig! Joseph aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Wir hören einen Hauptsatz der Heiligen Schrift. Der sich aus Gottes und Jesu Mund durch beinahe alle Schriften Alten und Neuen Testamentes zieht. Hier darf ein gereifter Mensch ihn selber in den Mund nehmen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.

Was jetzt am Tage ist! Darauf lenkt Joseph den Blick aller Brüder. Der Segen Jakobs kann jetzt wachsen und gedeihen. Denn unser Gott ist viel weniger ein Gott der Vergeltung als viel mehr ein Gott der Versöhnung. Heute ist es wie am Jom Kippur, an dem lebensfeindliche Missetat zugedeckt, ja vergeben wird. Brüder, nicht meine Diener sollt ihr werden, sondern Gottes Diener wollen wir bleiben, gemeinsam, das verbindet uns! Auch mit den schon Verstorbenen, mit Jakob dem Vater, mit Lea und Rachel und den beiden anderen Müttern. Das alles kann geschehen, weil endlich der Blick frei ist auf das was damals geschah, eine Missetat! Hören Sie dazu, liebe Gemeinde, eine jüdische Lehre, die Martin Buber uns überliefert. Die Schäden der eigenen Seele zu sehen, rät chassidische Weisheit: „Der Lelower sprach zu seinen Chassisdim: Erlösung kann zu einem Menschen nicht kommen, ehe er die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt. Erlösung kann zu einem Volk nicht kommen, ehe es die Schäden seiner Seele sieht und sie zurechtzubringen unternimmt. Wer, Mensch oder Volk, der Erkenntnis seiner Mängel keinen Zutritt gewährt, zu dem hat die Erlösung keinen Zutritt. Wir werden in dem Maße erlösbar, in dem wir uns selber sichtbar werden.“

So fürchtet euch nun nicht, kann Joseph jetzt sagen. Ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen.

Was für ein schönes Ende unserer Perikope für heute. Joseph kann das sagen, weil Gott mit ihm freundlich nicht nur geredet, sondern auch gehandelt hat. Es lohnt sich, die ganze Geschichte von Genesis 37 an  zu lesen. Ich sage Ihnen noch zwei Fundstücke. Kapitel 39,21: Auch im ägyptischem Gefängnis, in dem er unschuldig einsaß, ist der Herr mit Joseph und „machte ihn beliebt. Was er auch tat, der Herr ließ es gelingen.“ Und einige Kapitel weiter (45,5) sagt Joseph den Brüdern, nachdem sie ihn als einen der ihren erkannten, was seine Lebensaufgabe ist: Um Leben zu erhalten, hat mich Gott vor euch her gesandt.

Ich sprach neulich im Altenheim mit einer Frau, die ihre 95-jährige Mutter fast jeden Tag besucht. Obwohl diese kaum noch etwas sehen, geschweige denn ganze Sätze formulieren könnte. Die Tochter wirkt auf mich dabei sehr geduldig und liebevoll. Als ich sie frage, wie sie das schafft, meint sie nur: „Ach, wissen Sie, ich streichle einfach gern ihre faltig gewordenen Finger. Wir hatten eine harte Kindheit. Aber Mutters Hände, die haben mir jeden Morgen übers Haar gestrichen, bevor ich zur Schule ging. Das war wie ein Segen. Und diesen Segen, von dem möchte ich ihr etwas zurückgeben, solange sie noch auf der Erde ist.“

Ich denke so ähnlich war das auch mit Joseph: Er tröstete sie und redete freundlich mit Ihnen. Berichtet wird von ihm dann nur noch sein späterer Tod, im Alter von 110 Jahren. Dann beginnt das Buch Exodus, der Weg Israels in die Freiheit…

Und Gottes Friede, der weiter reicht als alle menschliche Vernunft, der wird unsere Herzen und Sinne bewahren in Christus Jesus. Amen.