»Vorsicht! In dem Paket ist etwas drin.«
Predigt zum 1. Weihnachtstag 2023
von Achim Detmers

»Gnade sei mit Euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus.« (Röm 1,7) Amen.

I.

Liebe Gemeinde,

wir alle haben das in den letzten Tagen wahrscheinlich reichlich gemacht: Geschenke in buntes Papier eingehüllt, alles mit einer Schleife befestigt. Wir haben mit Tesafilm gekämpft und das Eingepackte dann gut vor den Augen der Familie versteckt.

Gestern oder heute war dann die Zeit, die Geschenke feierlich zu überreichen. Vor allem für Kinder ist das ein besonderer Moment, auf den sie 24 Adventstürchen lang hingefiebert haben.

Einige Geschenke sind vorher schon bekannt, andere sollen eine Überraschung sein. Als Kinder haben wir schnell begriffen, dass harte Päckchen fast immer besser sind als weiche: Weiche enthalten nämlich oftmals Dinge, die man ohnehin bekommen hätte: Mützen, Unterhosen, Pullover usw. Für Männer gab es früher die sog. SOS-Geschenke: Schlips, Oberhemd, Socken – weiche Geschenke eben, die schnell im Kleiderschrank verschwanden.

Harte Pakete dagegen sind interessant: Sie enthalten Bücher, Spiele, Technik usw. (Pause) Und am spannendsten sind kleine Päckchen. In ihnen verbergen sich häufig die wertvollsten Geschenke – Schmuck etwa, eine Uhr oder andere schöne Dinge.

Liebe Gemeinde,

auch in unserem Predigttext geht es heute um ein Geschenk.

Es wurde sorgsam eingepackt, abgedichtet und heimlich auf den Wasserweg gebracht. Es war ein unfreiwilliges Geschenk für einen unbekannten Empfänger. Und obendrein war unsicher, ob dieses Geschenk – ein neugeborenes Kind – überhaupt einen Empfänger haben würde.

Beim Kindlein in der Krippe wissen wir, wie es ausgeht: die Volkszählung, Quirinius als Statthalter, die Krippe im Stall zu Bethlehem, die Hirten und Engel auf dem Feld. So jedenfalls steht es im Evangelium nach Lukas.

Bei Matthäus wird es dramatischer erzählt: Die ungeklärte Vaterschaft, der Stern, die Weisen aus dem Morgenland, Gold, Weihrauch und Myrrhe sowie der von Herodes befohlene Kindermord in Bethlehem und die Flucht von Maria und Josef nach Ägypten.

Das andere neugeborene Kind, das aus unserem Predigttext, wird genau dort geboren: in Ägypten, mindestens tausend Jahre vor dem Stern über Bethlehem. Und dieses neugeborene Kind trägt einen besonderen Namen: Spricht man ihn hebräisch aus: »Mosche«, dann bedeutet er »aus dem Wasser gezogen«. Sieht man darin einen ägyptischen Namen, wie Ramses oder Thutmosis, dann bedeutet der Name »von Gott geboren«.

Und diese doppelte Namensbedeutung ist Programm:

Mosche stammt genau wie Jesus von Abraham, Isaak und Jakob ab. Mose ist ein ägyptischer Königssohn so wie Jesus, der als Nachkomme des Königs David gesehen wird.

Damit bekommen wir also eine erste Idee, warum die Erzählung von der Geburt des Mosche-Mose am 1. Weihnachtstag gepredigt werden soll: Die Geburt des Kindes in Bethlehem hat nämlich etwas mit der Geburt des Kindes in Ägypten zu tun.

II.

Doch bevor wir uns das genauer anschauen, will ich noch auf eine andere Figur zu sprechen kommen, die mir bei der Vorbereitung der Predigt andauern durch den Kopf ging – nämlich Jim Knopf aus dem Kinderbuch von Michael Ende. Auch Jim Knopf gelangt als Neugeborener in einem Paket auf dem Wasserweg zu seiner neuen Mutter, zu Frau Waas auf die Insel Lummerland. Eigentlich sollte Jim Knopf zu Frau Mahlzahn in die Drachenstadt Kummerland. Doch die wilden 13 Pi-raten haben im Fach ›Schönschreiben‹ geschlafen, sodass das Paket in Lummerland ankommt. Nach zahlreichen Abenteuern auf dem Wasser, unter Wasser und in der Wüste stellt sich heraus, dass Jim Knopf eigentlich Prinz Myrrhen heißt. Er ist der letzte Nachfahr von König Kaspar, einem der drei Heiligen Könige, die Jesus die Geschenke gebracht haben: Gold, Weihrauch und Myrrhe. Von letzterem hat Jim Knopf seinen Namen: Prinz Myrrhen.

Ich war richtig überrascht, als ich das entdeckte: In Jim Knopf verbinden sich Themen der Geburtsgeschichte von Moses mit der von Jesus. Hier das unfreiwillige Geschenk auf dem Wasserweg, dort das Kind, das von einem König Geschenke bekommt.

III.

Doch zurück von Lummerland nach Ägypten. Wir haben bisher noch nicht erfahren, warum Mosche-Mose in einem wasserabgedichteten Kästlein auf dem Nil ausgesetzt wurde. Im zweiten Buch Mose wird der Zusammenhang so erzählt:

Josef, der in Ägypten zur rechten Hand des Pharao aufgestiegen war, holte seinen Vater Jakob und die Brüder mit ihren Familien nach Ägypten. Auf diese Weise bewahrte er sie vor der Hungernot. Ein neuer Pharao hatte die Verdienste Josefs aber vergessen und empfand die Hebräer im Land als Bedrohung. Sie vermehrten sich rasch und wurden deshalb zu Sklaven-Arbeiten herangezogen. Als die Zahl der Hebräer aber weiter zunahm, sah sich der Pharao zu einer drastischen Maßnahme veranlasst. Die Hebammen sollten die männlichen Nachkommen der Hebräerinnen bei der Geburt töten. Doch der Pharao, der die hebräischen Männer als Gefahr einstufte, hatte die Rechnung nicht mit den Frauen gemacht. Die beiden Hebammen, Schifra und Pua, weigerten sich, das zu tun. Sie erzählten stattdessen, die Hebräerinnen würden so schnell gebären, dass die Hebammen zu spät kämen, um noch etwas auszurichten.

Der Pharao befahl daraufhin, alle neugeborenen männlichen Hebräer im Nil zu ertränken.

Doch auch hier sind es wieder Frauen, die diesen Plan durchkreuzen: Eine hebräische Mutter versteckte ihren neugeborenen Sohn drei Monate lang bei sich. Das wurde auf Dauer immer gefährlicher. Doch was sollte sie tun?

Schließlich bastelte sie ein Kästchen aus Papyrus, dichtete es unten gut ab und versteckte das Kästchen im Schilf am Ufer des Nils.

Im Hebräischen wird dieses Kästlein mit demselben Wort bezeichnet wie die Arche bei der Sintflut. Wer die Geschichte auf hebräisch las, ahnte deshalb gleich, dass hier eine große Rettungsgeschichte folgen würde.

Doch zunächst ist das am Nilufer ausgesetzte Kästlein die Verzweiflungstat einer Mutter und nur die halbe Rettung des Kindes. An der vollen Rettung des Kindes sind dann weitere Frauen beteiligt. Auch sie verweigern sich dem brutalen Befehl des Pharao: Da ist zunächst die Schwester des Kindes, Mirjam. Sie war entweder naiv oder klug berechnend. Denn sie beschloss zu beobachten, was mit dem Bruder im Papyrus-Kästlein passieren würde. Und dann kommen Frauen vom Hof des Königs dazu: Die Tochter des Pharao badet im Nil, ihre Zofen warten derweil am Ufer. Die Königstochter entdeckt das schwimmende Geschenk im Schilf und lässt das eigentümliche Paket von den Dienerinnen bergen.

III.

Bei Jim Knopf in der Augsburger Puppenkiste bringt der Postbote mit dem Postschiff das Paket auf die Insel. Frau Waas erwartete eine Lieferung Lakritzbonbons, Herr Ärmel seine Umkehrfarbfilme und König Alfons der Viertel-vor-zwölfte das Fernsprechbuch von Nordgrönland. Als der Postbote verdächtige Geräusche hört, ruft er: »Vorsicht! In dem Paket ist was drin.« Lukas und der König rufen beide: »Klar, in jedem Paket ist es etwas drin.« Schließlich öffnet Frau Waas die Lieferung und findet keine Lakritzbonbons, sondern einen Säugling in Windeln gewickelt. Herr Ärmel macht sofort ein Foto, der König freut sich über den neuen Untertan, und Lukas der Lokomotivführer empfindet es als »Gemeinheit (...), so ein kleines Kerlchen in ein Paket zu packen«.

Auch die Tochter des Pharao ist beim Öffnen des Kästlein überrascht. Drin liegt ein weinendes Kind, und ihr ist sofort klar, dass das »eins von den hebräischen Kindern« sein muss, die ertränkt werden sollten.

Die Schwester des Jungen, Mirjam, ist inzwischen hinzugekommen und bietet der Königstochter an, eine hebräische Amme zu besorgen, die das Kind stillen kann. Die Königstochter hat Mitleid mit dem weinenden Kind und lässt sich auf diesen gefährlichen Handel ein. Sie unterläuft damit den Befehl ihres Vaters.

Auf diese Weise kommt das Kind zunächst zu seiner eigentlichen Mutter zurück. Und wächst dann später privilegiert am Königshof auf. Dort bekommt das Kind seinen Namen: Mose – von Gott geboren – und zugleich Mosche – aus dem Wasser gezogen.

IV.

Liebe Gemeinde,

während Jim Knopf, alias Prinz Myrrhen, als Säugling aus dem Leben am Königshof herausgerissen wurde, wird Mose durch seine Adoption in dieses Leben hineingestellt. Das Leben als Prinz ist für Mose ein Leben im Luxus mit eigenen Räumen, Bademöglichkeiten, Getränkekeller und vielleicht sogar einem Diener, der ihm frische Luft zuwedelt.

Doch eines Tages – Mose ist inzwischen erwachsen – endet dieses vornehme Leben. Mose wird klar, dass er am Hof in einer Blase gelebt hat. Anders als er müssen seine hebräischen Brüder und Schwestern hart arbeiten, um zu überleben. Als Sklaven können sie sogar zu Tode geprügelt werden, ohne dass jemand dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Und genau das geschieht eines Tages direkt vor seinen Augen; Mose wird Zeuge, wie ein Ägypter einen hebräischen Sklaven tötet. Mose ist so empört, dass er den Ägypter totschlägt und im Sand verscharrt. Am nächsten Tag realisiert Mose, dass er bei dieser Tat beobachtet wurde, und flieht. Von da an beginnt das zweite Leben des Mosche-Mose.

Bei Jim Knopf ist es genau umgekehrt. Bevor er zu seinem ersten Leben als Prinz zurückfindet, muss er zahlreiche Aufgaben meistern:

Zusammen mit seinem Freund Lukas bannt er die magnetischen Kräfte am Meeresboden, durchquert das gefährliche Tal der Dämmerung und überlebt den schaurigen Mund des Todes. Er fliegt über die Krone der Welt, landet in der Wüste und besiegt seine Angst vor dem Riesen, der sich als Scheinriese entpuppt. Er kämpft mit dem Drachen, der dadurch zum goldenen Drachen der Weisheit wird. Er befreit die Kinder aus der Drachen-stadt und führt sie in das Land Jimballa, das sich aus dem Meer erhebt.

Ähnlich beeindruckend ist die ›Leistungsbilanz‹ des Mose:

Er stößt in der Wüste auf einen brennenden Dornbusch, aus dem heraus sich der Gott Israels mit seinem Namen offenbart. Er bekommt von diesem Gott den Auftrag, Israel ins Gelobte Land zu führen. Dafür lässt er 10 Plagen über die Ägypter kommen, damit sie die Hebräer ziehen lassen. Nach der letzten Plage führt Mose sein Volk trockenen Fußes durch das Schilfmeer. Die ägyptischen Streitwagen versinken in den Fluten. In der Wüste sorgt Mose für Wasser und Manna, zerstört das Goldene Kalb und empfängt oben auf dem Berg von Gott die 10 Gebote.

V.

Liebe Gemeinde,

durch mangelnde Schönschreibfähigkeiten entgeht Jim Knopf seinem Schicksal, in der brutalen Schule des Drachen Mahlzahn zu landen. Ohne die fehlerhafte Adresse auf dem Paket hätte Jim Knopf nie erfahren, dass er von einem der Weisen aus dem Morgenland abstammt.

Bei Jesus sind es genau diese Weisen aus dem Morgenland, die dem König Herodes die Geburt des Retters verheimlichen und so die rechtzeitige Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten ermöglichen.

Und bei Mose sind es mehrere Frauen, die sich dem brutalen Befehl des Pharao widersetzen und dafür sorgen, dass das weinende Kind nicht im Nil ertrinkt.

Ohne die Rettung des Mose oder Mosche wäre das Kindlein in der Krippe zu Bethlehem gar nicht denkbar:

Die Hebräer wären in Ägypten verblieben oder auf dem Weg durch die Wüste verhungert und verdurstet. Den Namen ihres Gottes hätten sie nie erfahren und sich eigene Götter gemacht. Die 10 Gebote und das mosaische Gesetz gäbe es nicht und auch keinen König David, von dem Jesus hätte abstammen können.

Wir sehen also: Bei dem Kästchen auf dem Nil, das im Hebräischen an die Arche erinnert, steht viel auf dem Spiel – die Rettung Israels und später die Rettung aller Menschen, die in Jesus an den Gott Israels glauben.

Es steht viel auf dem Spiel. Denn das Kindlein in der Krippe zu Bethlehem und das Kindlein in dem Kästchen auf dem Nil werden in Zeiten großer Gefahren geboren.

Über unserem heutigen Predigttext könnte darum stehen:

»Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Pharao ausging, dass alle hebräischen männlichen Neugeborenen getötet würden. Und dieses Pogrom war das allererste und geschah zu der Zeit, da Josef als Statthalter in Ägypten vergessen war...«1

Das niedliche Papyrus-Kästlein auf dem Nil kann darüber hinwegtäuschen, wie gefährlich die Situation damals für das Volk der Hebräer war. Auch in der Weihnachtsgeschichte wird von dem Kindermord durch König Herodes berichtet. Nur durch die Zivilcourage der Frauen und der Weisen aus dem Morgenland kann das, was Gott auf den Weg bringen will, geschehen. Gott setzt seinen Heilsplan gegen Widerstände durch; aber er braucht Menschen, die das Rechte erkennen und sich dem Unrecht verweigern.

VI.

Liebe Gemeinde,

mit dem heutigen Predigttext haben wir der Tochter des Pharao beim Auspacken des Geschenkes zugesehen. Anders als bei unserem Auspacken zu den Festtagen geht es am Nil-Ufer nicht um den Wert und die Beschaffenheit des Geschenkes. Auch, von wem das Geschenk ist, spielt keine Rolle. Entscheidend ist, dass die Tochter des Pharao das Geschenk annimmt, wissend, dass es sie in Gefahr bringen könnte. Indem sie das Geschenk annimmt, protestiert sie gegen die Gewalt, die von ihrer eigenen Familie ausgeht. Sie lässt sich in die Verpflichtung nehmen, ein kleines Zeichen zu setzen gegen Unrecht und Gewalt. Ein kleines Zeichen, von dem sie noch gar nicht ahnt, wie groß es werden würde.

Auch wir haben zu Weihnachten ein Geschenk bekommen: das Kindlein in der Krippe zu Bethlehem. Wenn wir es öffnen und annehmen, setzen auch wir ein Zeichen gegen Strukturen, die in unserer Welt Gewalt begünstigen und Unrecht zementieren. Strukturen, in die wir selbst eingebunden sind. Von daher ist das Kindlein in der Krippe ein Geschenk, bei dem man ausrufen möchte: »Vorsicht! In dem Paket ist etwas drin.«

»Und der Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.« Amen.